Italien
Ethnische Minderheiten in Kalabrien
Italiener äußern sich oft etwas abfällig über ihre Landsleute in Kalabrien. Sie gelten als "dumm" und "kulturlos". Abgesehen von der Aussagekraft solcher Vorurteile, so einfach lässt sich der Kalabrese gar nicht definieren.
Über Jahrhunderte haben sich Angehörige verschiedener Völker in der abgeschiedenen und gebirgigen Region angesiedelt. Teils haben sich die Volksgruppen im Laufe der Zeit vermischt, teils haben sie sich aber auch noch erhalten mit eigener Sprache und Kultur.
Die okzitanische Sprache, wie sie bis zum 18. Jahrhundert in Südfrankreich gesprochen wurde, ist in dem kleinem Bergdörfchen Guardia Piemontese im Nordwesten Kalabriens noch heute zu hören. Bis hierhin sind im 14. Jahrhundert in Frankreich verfolgte Waldenser geflohen. Vergeblich, denn schon bald wurden sie auch hier verfolgt. Ein Tor erinnert noch heute an das Massaker, das die Inquisition anrichtete: Mehrere hundert Menschen, die ihrem Glauben nicht abschwören wollten, wurden damals getötet.
Die überlieferte Tracht, die in einer Vitrine im Foyer des kleinen Rathauses ausgestellt ist, ist ein Bußkostüm, das den ehemaligen Protestanten als Strafe verordnet wurde. Bereits über der Brust beginnt bei dem sackähnlich geschnittenen Kleid die Schürze. Jeder weibliche Reiz sollte vermieden werden. Ein kleines örtliches Museum zeigt eine Reihe Details über das Leben und die Verfolgung der Waldenser in Guardia Piemontese und Umgebung.
Ganz im Süden, östlich des malerisch auf einem Sandsteinfelsen gelegenen Örtchens Pentedattilo, haben sich in mehreren Orten griechische Bevölkerungsgruppen mit ihrer Kultur und Sprache gehalten. Sprachforschern zufolge soll es sich um die direkten Nachfahren der griechischen Kolonisatoren vor fast 3 000 Jahren handeln. In Bova und Reggio gibt es sogar noch griechisch-orthodoxe Kirchengemeinden. Bis zum 15. Jahrhundert war der orthodoxe Ritus noch weit verbreitet.
Im Nordosten Kalabriens wiederum gibt es seit etwa 1590 ein geschlossenes Siedlungsgebiet von Albanern, die damals vor den in ihr Land einfallenden Türken flohen. Erhalten blieben die Sprache, eine Reihe Gebräuche und vor allem die Trachten. Jedes Dorf hat eine etwas unterschiedliche Tracht mit einer einfacheren Alltags- und einer sehr aufwendigen Festtagstracht.
In Firmo zeigt uns die 75jährige Vicensina Luchese die vier Röcke, die anläßlich hoher Feiertage übereinander getragen werden. Allein, um dieses Kleid anzuziehen, bräuchte sie zwei bis drei Stunden Zeit.
Stattdessen holt sie ein Foto aus ihrem Schrank und stolz zeigt sie uns, wie sie darin vor 50 Jahren an ihrem Hochzeitstag aussah. Die Tracht hat sie von ihrer Mutter bekommen. Geflickt, aber dennoch kostbar ist sie wahrscheinlich schon über mehrere Generationen vererbt.
Otmar Steinbicker