Zur Kirchweih in die Camargue
Kirchweih in Les-Saintes-Maries-de-la-mer: Außerhalb der Hochsaison feiern die Gardians, die „Cowboys“ der Camargue, im Juni ihr eigenes, mehrtägiges Fest, die „fete votive“, mit Umzügen, Reiterspielen und provenzalischem Stierkampf. Den Unterschied zur organisierten Folklore für die Touristen spürt man schnell: Dieses Fest ist noch nicht kommerzialisiert. Otmar Steinbicker hat die fete votive besucht.
Zwei Musikanten mit Flöten und Trommeln führen den feierlichen Zug der Einwohner an, der sich vor der Arena in Bewegung setzt. Die Mädchen und Frauen tragen die alte arlesische Festtagstracht mit vielen Spitzen und die Männer eng anliegende Hosen, kurze Jacken und breitrandige Filzhüte. Den Abschluss bilden die Gardians auf ihren kleinen weißen Camargue-Pferden, hinter sich auf dem Sattel die Ehefrau und in der Hand den Trident, einen Dreizack an einer langen Stange, ihr Werkzeug zum Hüten der Stierherden.
Durch die engen von zahlreichen Restaurants gesäumten Straßen der Stadt geht es zur massigen Kirche aus dem 12. Jahrhundert mit ihren mächtigen Mauern und winzigen Fenstern. Der festungsähnliche Charakter des Gotteshauses stammt noch aus der Zeit, als die Mittelmeerküste häufig von Sarazenenüberfällen heimgesucht wurde.
Übers Meer kamen für die Stadt aber nicht nur Gefahren, sondern der Legende nach auch die Namensgeber der Stadt: die heiligen Marien. Nach Jesu Kreuzigung seien seine nächsten Angehörigen nach Gallien geflohen, heißt es und Maria Jakobäa, die Tante Jesu; Maria Salome, Mutter der Apostel Jakobus und Johannes; ihre ägyptische Dienerin Sara, Lazarus, seine Schwester Martha, Maria Magdalena und der heilige Maximin hier an der Küste der Camargue an Land gegangen.
Der Festzug zieht weiter und auf dem Place Mireille würdigt man mit Volkstänzen den provenzalischen Dichter Frédéric Mistral, der einen bedeutenden Beitrag zur Erhaltung der provenzalischen Kultur und Tradition geleistet hat. Als Landschaft der Blüten und Blumen beschrieb Mistral die Camargue in "Mireille und Vincent", der Geschichte einer großen Liebe.
An das feierliche Defilee, das an der Arena endet, schließen sich später Reiterspiele an, bei denen die Gardians zeigen, was in ihnen und ihren Pferden steckt, wenn sie im gestreckten Galopp nach Orangen greifen, die ihnen Frauen in arlesischer Tracht reichen, oder versuchen, sich zu Pferde gegenseitig ein um den Arm gebundenes Tuch zu entreißen. Und gern zeigen sie ihre Fertigkeit, mit den schwarzen Stieren umzugehen, die sie in der weiten Sumpflandschaft der Camargue züchten, wenn sie etwa bei der "Ferrade" einen Jungstier fangen, um ihm das Zeichen der Herde einzubrennen.
Draußen vor der Stadt, in den Sümpfen der Camargue, machen die schwarzen Stiere einen ausgesprochen friedlichen Eindruck. Hin und wieder begegnet man ganzen Herden, die nahe den blau-grünen Brackwasserseen im Mündungsdelta der Rhône grasen, zumeist nicht weit entfernt von den weißen Pferden, die klein und gedrungen, jedoch überaus zäh sind. Um deren Ursprung ranken sich unterschiedlichste Theorien, wonach diese Tiere mal aus prähistorischer Zeit stammen, mal aus Assyrien oder Nordafrika. Sicher ist nur, dass die Römer die Camargue-Pferde schon kannten und von ihren Qualitäten im Zirkus beeindruckt waren.
Um in das Naturparadies der Camargue zu gelangen, ist das Reisemobil verständlicherweise kein geeignetes Verkehrsmittel. Allenfalls weiträumig lässt damit sich der Étang de Vaccarès, der große Salzsee im Zentrum, auf kleinen Departementstraßen umkurven, die nur an wenigen Stellen einen Blick auf die geschützte Landschaft und ihre Tierwelt zulassen. Lohnenswert sind Autoausflüge allerdings zu Informationszentren wie dem Camargue-Museum in der ehemaligen Schäferei des "Mas du Pont du Rousty", oder dem Vogelpark bei Pont du Gau, nahe Les-Saintes-Maries-de-la-mer.
Intensivere Möglichkeiten die Natur zu erfahren, bietet ein geländegängiges Fahrrad. Eine lehmige aber panoramenreiche Piste führt beim Mas Cacharel direkt am Seeufer entlang auf Mas Méjanes zu. Hin und wieder sieht man in der Landschaft eine Cabane, eine kleine, steinerne, mit Schilf gedeckte Schäferhütte, deren Dächer nach Norden abgerundet wurden, um dem kalten Mistral-Wind besser trotzen zu können.
Flamingos staken durch das flache, mit einer bunten Flora bedeckte Wasser, das sie mit ihren Schnäbeln durchsieben auf der Suche nach kleinen Krabben und anderem Futter. Gegen Abend bieten diese Vögel ein eindrucksvolles Schauspiel, wenn sie auffliegen, um zu ihren Nistplätzen zu gelangen und dabei die rosafarbene Unterseite von Leib und Schwingen zeigen. Ganze Schwärme ziehen dann wohl geordnet am Camargue-Himmel entlang.
Für Vogelkenner sind die Flamingos allerdings nur eine von hunderten interessanter Vogelarten der Camargue, denn viele Vögel kommen als Sommergäste aus Afrika. Der Bienenfresser gehört dazu oder die Bengalenracke und mal "verirrt" sich ein Vogel, wie der afrikanische Marabu, der normalerweise in der Camargue nicht zu finden ist.
Eine weitere, ebenso lohnende Piste führt von Les-Saintes-Maries-de-la-mer über den Deich zwischen Étang und offenem Meer zum zehn Kilometer entfernten Leuchtturm von La Gacholle. Von hier aus lassen sich mit dem Fernglas die Kolonien hunderter, vielleicht tausender Flamingos auf den vielen kleinen Inseln im streng geschützten Naturreservat beobachten, das ausschließlich von Ornithologen betreten werden darf.
Für einen Autoausflug bietet sich auch Aigues-Mortes mit seiner einzigartigen, vollständig erhaltenen mittelalterlichen Stadtmauer an. Über Jahrhunderte war die Stadt am westlichen Rand der Camargue, die nach den Kreuzzügen ihre Bedeutung verlor und versandete, in Vergessenheit geraten und ihre Einwohnerzahl so drastisch gesunken, dass niemand dachte daran, die Mauern abzureißen, um Platz für weitere Häuser zu schaffen.
Der Tour de Constance, ein runder, etwa dreißig Meter hoher Turm, diente während der Hugenottenverfolgung als Staatsgefängnis für die Protestanten. Marie Durand, die bekannteste unter ihnen, wurde hier 37 Jahre lang gefangen gehalten und erst 1768 entlassen. Ihre Zelle ist noch vorhanden und zu besichtigen. Ein Turmbesuch lohnt sich ohnehin, denn von dort aus kann man einen Rundgang auf den Zinnen der Mauern starten, um von oben die Stadt zu erschließen.
Ganz im Süden von Aigues-Mortes erheben sich leuchtend weiße Hügel aus purem Salz. Seit der Römerzeit wird hier dem Meer Salz entzogen, derzeit etwa 500 000 Tonnen jährlich. Am anderen Ende der Camargue, in Salin de Giraud, wird sogar die doppelte Menge gewonnen. Über Kanäle wird das Meerwasser über eine Strecke von 30 Kilometern in Salzbecken geleitet. Von einer Etappe zur nächsten verdunstet immer mehr Wasser. Den steigenden Salzgehalt der Becken kann man mit bloßem Auge erkennen, denn ab einer bestimmten Salzkonzentration sterben die mikroskopisch kleinen Crevetten ab und färben das Wasser rosa.
Ein weiterer Ausflug führt nach Arles, der alten Stadt mit dem größten erhaltenen römischen Amphitheater Frankreichs, das am Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. für die Spiele errichtet wurde und 20.000 Zuschauer fassen konnte. Damals gab es in dieser Arena übrigens keine Kämpfe mit Löwen, wohl aber mit Stieren. Heute kann man dort eine vergleichbare Atmosphäre bei provenzalischen oder spanischen Stierkämpfen miterleben.
Arles fasziniert darüber hinaus mit einer Lichtfülle, die Maler wie Vincent van Gogh zu vielen Bildern angeregt hat. Wer diesem Aspekt nachspüren möchte, sollte einen Abstecher ins 30 Kilometer entfernte Saint-Rémy einplanen, der letzten Etappe im Leben van Goghs. Der schönste Weg dorthin führt durch die Alpilles, einen Gebirgszug, der trotz seiner geringen Höhe von weniger als 400 Metern wie Hochgebirge wirkt.
Diese Straße passiert Les Baux, das kleine Dörfchen mit der legendären, längst zerstörten Burg, deren Herren im Mittelalter weite Teile der Provence beherrschten und Troubadoren und Minnedichtern ein beliebtes Zentrum boten.
Einen modernen Kulturgenuss besonderer Art ermöglicht heute in Les Baux die "Cathedrale d'Image". Auf den glatten weißen, mehr als 4000 qm großen Flächen eines unterirdischen ehemaligen Steinbruchs wird aus 40 Projektoren eine faszinierende Diavision mit Fotos europäischer Spitzenfotografen zu jährlich wechselnden Themen gezeigt.
Otmar Steinbicker