Frankreich
Die grünen Seiten Lothringens
"Vous êtes en Lorraine" - "Sie sind in Lothringen". Frankreichurlauber kennen dieses Autobahnschild von der Durchreise in Richtung Süden. Lothringen, diese Region ist für die meisten ein Synonym für eine krisengeschüttelte Stahlindustrie, für Dreck und Staub. Lothringens grüne Seiten dagegen gehören zu den wenigen Insidertipps im touristisch so erschlossenen Mitteleuropa. Otmar Steinbicker hat sie entdeckt.
"Metz - ville vert", dem Hinweisschild auf die grüne Stadt an der Autobahn vermag man noch nicht recht zu glauben. Doch das Versprechen erweist sich als wahr: Metz ist grün. Die Statistiker zählen sogar 25 Quadratmeter Grünflächen pro Einwohner.
Durch malerische Straßen mit schönen alten Bürgerhäusern gelangen die Reisenden zur Kathedrale, die von weitem sichtbar das Stadtzentrum überragt. "Laterne Gottes" wird sie genannt wegen ihrer überaus großen und schönen Kirchenfenster. 6.500 Quadratmeter Fensterfläche, Kunstwerke der Glasmalerei vom 13. Jahrhundert bis hin zu Marc Chagall, der 1959 das "Fenster der Versuchung" gestaltete.
Einen Einstieg in die Geschichte der Stadt sollte der Besucher nicht verpassen. Er bietet sich im wahrsten Sinne des Wortes in dem unweit der Kathedrale gelegenen Museum. Man steigt hinunter zu den Überresten der römischen Thermen und erschließt von dort aus Archäologie und Geschichte, Kunst und Architektur, und begegnet dabei Exponaten aus drei Jahrtausenden, von der Antike bis zur Gegenwart. Bereits zu gallorömischer Zeit war Metz die große und bekannte Stadt der Mediomatriker, ehe sie Hauptstadt des merowingischen Königreiches Austrasien wurde, und bis ins 3. Jahrhundert hinein reicht die Geschichte des Bistums Metz.
Bekannter als Metz jedoch ist Verdun und die sie umgebenden blutgetränkten 210 Quadratkilometer Schlachtfeld des ersten Weltkrieges, auf dem binnen eines Jahres über 50 Millionen Granaten niedergingen und so viele Menschen auf so eng begrenztem Raum starben. In Schätzungen ist von 300.000 Toten, fast einer Million Schwerverwundeten und 500.000 Vermissten die Rede.
Eine Wanderung durch die herrlichen Buchen-, Eichen- und Tannenwälder eignet sich wohl am besten, sich der grausamen Geschichte anzunähern. Zu Fuß und abseits lärmender Besuchergruppen, die per Autobus die wichtigsten Stationen abklappern, lässt sich die Dimension dieser Schlacht begreifen, anhand der Überreste von Gefechtsständen, Verschanzungen, Unterständen und Kasematten, die den Weg säumen, die Dichte des Befestigungsnetzes ermessen, die Strategie und Taktik von Angreifern und Verteidigern und das Leiden der Soldaten auf beiden Seiten nachvollziehen.
Und doch ist die Stadt Verdun mehr als die Erinnerung an den ersten Weltkrieg. Kriegerische Konflikte allerdings gehören von Anfang an zur Stadtgeschichte. Ihr Name "starke Festung" bedeutete schon seit der Gründung im 3. Jahrhundert vor Christus Programm: Die strategisch günstig gelegene, leicht zu verteidigende Stadt beherrschte die Straße zwischen Reims und Metz.
Mehr über Verduns uralte Geschichte lässt sich im städtischen Museum im "Hotel de la Princerie" erfahren, einem eleganten Renaissance-Bau mit Innengalerie, ehemals Residenz des Fürstbischofs. Eines der schönsten Exponate, ein rheinischer Liturgiekamm aus geschnitztem Elfenbein stammt aus dem 11. Jahrhundert und gehörte einst dem deutschen Kaiser Heinrich II. Und ein ganzer Saal ist einer besonderen, ausnahmsweise sehr zivilen Spezialität der Stadt gewidmet, der Herstellung der berühmten Dragées, die seit Jahrhunderten produziert werden. Doch die Dragées probiert man dann doch lieber in einer der Patisserien.
"La Voie Sacrée", die heilige Straße, nennen die Franzosen seit den blutigen Jahren des ersten Weltkriegs die Straße nach Bar-le-Duc, über die damals die lebenswichtigen Transporte in das belagerte Verdun rollten. Mit Nachbildungen der Kriegshelme sind noch heute die Kilometersteine geschmückt. Doch dann kommt Bar-le-Duc ins Blickfeld, Frankreichs kleinste Département-Hauptstadt, ein Idyll des Friedens. In der Oberstadt drängen sich in den engen Gassen dicht an dicht die Giebel schöner alter Häuser, einige aus dem 13., viele aus dem 16. Jahrhundert, ein für Frankreich einmaliges Ensemble der Renaissance-Architektur.
Für einen Ausflug in das Saulx-Tal greifen die Reisenden zum Fahrrad, um besser die vielfältigen Details der Landschaft und der kleinen Orte wahrnehmen zu können. Mal zieht ein alter Brunnen die Aufmerksamkeit an, dann ein mit Blumen geschmücktes Fenster, hier ist es ein Wegekreuz, dort ein Blumengarten oder ein schlichtes, aber schön gelegenes Bauernhaus. In Combles-en-Barrois lassen sich die Golfer ihrem Spiel zusehen. Für die Kühe im Hintergrund muss dieser Anblick längst Routine sein, denn gemächlich kauen die ansonsten so neugierigen Tiere weiter, ohne sich für die ehrgeizigen Sportler noch im geringsten zu interessieren.
Kleine Brücken überspannen in Crémont-sur-Saulx das noch junge Flüsschen und verbinden so die Häuser mit der Straße. In Sichtweite des alten Schlosses in Jean d` Heurs absolvieren Reitschüler ihre Übungsstunden. In Haironville spannt sich eine alte Brücke aus dem 17. Jahrhundert über die Saulx. Golden flimmern die Savonnières-Steine des Renaissanceschlosses Château de la Varenne in der Sonne. Noch immer plätschert das Wasser ins Bassin des alten Waschhauses, in dem schon lange keine Wäsche mehr gewaschen wird.
Über kleine Nebenstraßen geht es von Bar-le-Duc gemütlich mit dem Reisemobil nach Domrémy-la-Pucelle, dem Geburtsort Jean d`Arcs, für viele Franzosen noch heute eine Art nationaler Wallfahrtsort. Weiter südwestlich, wo kaum noch ein Dorf auf der Strecke liegt, gab es im antiken Gallien eines der bedeutendsten Heiligtümer. Ganze 562 Einwohner zählt heute das Dörfchen Grand, kaum vorstellbar, dass es zu römischer Zeit 60.000 gewesen sein sollen. Und doch: die Überreste des Amphitheaters, die hier seit 1963 ausgegraben wurden, lassen keinen Zweifel zu. Mit einer Länge von 149,50 Metern gehörte die Arena von Grand zu den größten des römischen Reiches. Sie bot Platz für schätzungsweise 17.000 bis 20.000 Besucher. Sicher, das Kolloseum in Rom war mit 186 Metern Länge größer, aber schon die noch heute beeindruckend große Arena von Nimes rangierte mit 136 Metern hinter dem Theater von Grand.
Noch immer behält Grand viele seiner Geheimnisse für sich. Bereits zu keltischer Zeit stand hier ein Heiligtum des Gottes Grannus, des Gottes des Wassers und der Kranken das größte Wasserheiligtum Nordgalliens, eine Art antikes Lourdes, wohin kranke Pilger von weit her kamen, um in einem Wasserbassin Heilung zu suchen. Für ein Wasserheiligtum hat Grand allerdings eine höchst sonderbare geographische Lage. Das Dorf liegt fast an der höchsten Stelle einer bewaldeten Hochebene, die kaum Wasserstellen aufweist. Innerhalb der Ortschaft gibt es keine Quelle und wahrscheinlich hat es auch in der antiken Stadt nie eine gegeben und doch berichten alte Texte von einer Stadt der tausend Brunnen. Grands Geheimnis liegt im Dunkeln. Im Untergrund, tief unter dem Ort, verbirgt sich ein uraltes, weit verzweigtes Kanalisationsnetz, welches das Wasser aus einem Umkreis von etwa 15 Kilometern zusammenträgt. 307 Brunnen hat man bisher entdeckt. Doch noch sind nicht alle Geheimnisse gelüftet. Forscherteams, die bereits an der Cheops-Pyramide in Ägypten gearbeitet haben, versuchen jetzt mit den Möglichkeiten modernster Technik den offenen Fragen auf den Grund zu gehen.
Weniger geheimnisumwittert, dafür aber mit Sicherheit wirkungsvoll ist eine Pilgerfahrt in das nahegelegene moderne "Wasserheiligtum" Vittel. Rund 800 Menschen suchen hier täglich in den Thermen des berühmten Vogesenkurorts eine Linderung ihrer Leiden. Vor allem Trinkkuren sind hier beliebt. Die Einnahme von täglich zwei bis sechs Litern des heilenden Wassers dient der Entschlackung des Körpers.
Die Aussicht auf Gaumenfreuden zieht die Reisenden schließlich wieder nach Norden, zu einem Abstecher an die Wein- und Mirabellenstraße zu unternehmen, die sich an den Hügeln der Maas nördlich und südlich von Toul entlang schlängelt. Die einzige Straße, die in das Dorf Bruley hineinführt, endet am Weinberg. Rechts und links säumen die Dorfstraße typische Lothringer Häuser mit ihren langgezogenen, bis auf den Boden reichenden Dächern. Die 382 Einwohner sind allesamt Mitglieder der örtlichen Weinbruderschaft "Compagnie de la Capucine". Gemeinsam haben sie in einem der schönsten Häuser des Dorfes einen Weinkeller eingerichtet mit Probierstube und Weinmuseum. Gäste sind willkommen, auch wenn die niedrigen Preise eher auf die einheimischen Weinbrüder abgestimmt sind. François Ensminger, ein Weinkenner aus Toul, ist auf einen Abstecher nach Bruley gekommen. Er schätzt den Wein dieses Dorfes als einen der natürlichsten. "Für mich ist der kein Wein", sagt er verschmitzt, "sondern ein Medikament".
In Nancy tauchen Scheinwerfer die stolzen alten Gebäude am Place Stanislas in ein intensives warmes Licht und die Melodie eines Menuetts verbreitet etwas von der höfischen Atmosphäre des Rokoko. Die Ton- und Lichtschau an diesem lauen Sommerabend ist nicht nur ein Erlebnis, das im Gedächtnis haften bleibt. Es ist auch eine sehr anschauliche Einführung in die wechselhafte Geschichte dieser Stadt. Als sich 1736 der lothringische Thronfolger Franz Stephan mit Maria Theresia, der späteren österreichischen Kaiserin vermählte, vereinbarte der Hochadel, um Konflikten zwischen den beiden Großmächten Frankreich und Österreich vorzubeugen, kurzerhand einen Gebietstausch. Franz Stephan erhielt die Toscana, Lothringen dagegen wurde im Rahmen dieser "Grande Affaire de Lorraine" dem länderlosen Polenkönig Stanislas Lezczynski zugesprochen, der zuvor im französischen Exil von Almosen gelebt hatte. Als Herzog Stanislas verwirklichte er in Nancy seine kühnen architektonischen Vorstellungen, um die Stadt zu einem Schatzkästlein auszubauen. Der in seinem Auftrag von dem Architekten Emmanuel Héré angelegte Place gehört zu den großartigsten Baukomplexen des 18. Jahrhunderts. Victor Hugo, der während einer Reise an den Rhein eine Nacht in Nancy verbracht hatte, schrieb: "Der Rathausplatz ist einer der hübscheste, reichverziertesten und bezauberndsten Rokokoplätze, die ich je gesehen habe".
Vorbei an Obstbäumen und Weizenfeldern zieht sich die Straße durch die weite Landschaft des Saintois. Schon aus der Ferne fällt die prägnante hufeisenförmige Bergkuppe ins Auge, die sich jäh 500 Meter hoch, aus der Ebene erhebt: Colline Inspirée, seit Urzeiten der heilige Berg Lothringens. Die Basilika auf dem Gipfel ist seit Jahrhunderten ein Ort der Marienwallfahrten. Nach dem Krieg 1871 kamen hier Menschen aus allen Teilen Lothringens zusammen, um ihrer durch die deutsche Besatzung geteilten Heimat zu gedenken. Heute führt ein moderner Kreuzweg zum beeindruckenden Panorama von Sion. Weit schweift der Blick durch das Lothringer Land, über Felder, zahllose Dörfer und Städtchen bis hin zu den blaugrünen Schatten der Vogesenausläufer.
Markierte Wanderwege locken zur weiteren Erkundung des Hügels. Das Signal de Vaudémont ist ein weiter besonders schöner Aussichtspunkt. Doch der Berg bietet mehr als Panoramen. Wer ein wenig sucht, entdeckt Jahrmillionen alte Fossilien, die aussehen aus wie kleine Sterne - Teile des Rückgrats von kleinen Fischen. Auch Spuren einer prähistorischen Eisenproduktion wurden hier gefunden - wenn man so will, die Geburtsstätte der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie.
Ein ideales Wandergebiet finden die Reisenden rund um Gérardmer in den Vogesen, wo der Maler Max Slevogt seinen Vogesenhimmel gemalt hat, wo Fichten und Tannen, aber auch die Steineiche, die fast ausgestorbene Sumpfdotterblume und die Steinnelke zu Hause sind, und wo die Wälder noch wild und ursprünglich ausschauen, weil sie noch nicht so pedantisch aufgeräumt sind. Vorbei an Arnika und gelbem Enzian, an Heidelbeeren, die hier Brimbellen genannt werden, und wilden Stiefmütterchen geht der Weg aufwärts. Schmetterlinge flattern vorbei und auf über 1.000 Meter Höhe wachsen hier Orchideen auf Moorboden. Es ist der Granit der Vogesengipfel, der das Wasser nicht durchlässt und so die Hochmoorbildung herbeiführt.
Gegen Mittag ist die Höhe von Gravelin erreicht, 1.500 Meter über dem Meeresspiegel. In der rustikal eingerichteten "Auberge de Gravelin" bietet die Speisekarte ein preisgünstiges, kräftiges "Alpenmenü" mit einer warmen, in Teig gehüllten Pastete, einem großen Stück Kasseler mit Bratkartoffeln und Speck, sowie zum Abschluss einem Stück Munsterkäse, trotz des Hungers nach der langen Wanderung reichliche Portionen. Ein köstlicher Heidelbeerschnaps schafft da Erleichterung.
Otmar Steinbicker